Das Leben mit Magersucht – ein Einblick
Fabienne erzählt über ihre überwundene Essstörung. Über ihre Gefühle, Gedanken und wie sie die Krankheit überwinden konnte.
*Namen von der Redaktion geändert
Wie hast du deine Essstörung (ES) am Anfang wahrgenommen?
Wie wurde dir deine Erkrankung bewusst?
Fabienne*: Anfangs habe ich die Anorexie nicht als krankhaft wahrgenommen. Ich habe sie zwar bemerkt (kleinere Kleidergröße, mehr Gedanken um das Essen), jedoch war mein immer schädlicheres Verhalten wie eine Art Zwang und meine neue Realität. Ich konnte nicht anders handeln.
Erst als mein Umfeld (Schule, Familie, Freunde) die Sorgen und Bedenken mit mir teilten, wurde mir immer bewusster, dass etwas nicht stimmt. Leider war ich zu jenem Zeitpunkt nicht in der Lage, meine Erkrankung einzusehen und das anorektische Verhalten verschlimmerte sich. Mein Hausarzt hat mir bei einem Gespräch die Augen geöffnet. Meine Welt brach zusammen. Ich wusste nicht mehr weiter.
Welche körperlichen Symptome machten sich bei dir bemerkbar?
Haarausfall, brüchige Nägel, Nährstoffmangel, Kältegefühl, Kreislaufprobleme, Energielosigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Appetitlosigkeit, Ausbleiben der Menstruation, Osteopenie (Minderung der Knochendichte), blaue Flecken auf der Haut, Atembeschwerden, Verdauungsprobleme, Zahnschmerzen, Kraftlosigkeit (kaum Muskelmasse), Schmerzen des Bewegungsapparates – um einige zu nennen.
Hinzu kamen psychosomatische und seelische Schmerzen.
Hast du eine Therapie begonnen?
Wenn ja, wie bist du zu dem Entschluss gekommen? Wurdest du von deinem Umfeld beeinflusst?
Nachdem mir mein Hausarzt bewusst gemacht hat, wie ernst die Lage ist, wusste ich: Wenn ich mich jetzt nicht der ES stelle und professionelle Hilfe in Anspruch nehme, werde ich nicht mehr lange funktionieren.
Nach einem stationären Aufenthalt habe ich mich für eine ambulante Therapie entschieden. Mein Umfeld hat mir schon früher nahegelegt, dass ich meine Erkrankung behandeln muss, jedoch durchbrachen deren Sorgen den Zwang der ES nicht und ich war nicht bereit für eine Veränderung.
Was möchtest du Betroffenen mit ES mit auf ihren Weg mitgeben?
Welche Gedanken, Weisheiten oder Ratschläge haben dir weitergeholfen?
Es ist eigentlich eine ganz simple und logische Tatsache, aber sie hat mir zu diesem Zeitpunkt die Augen geöffnet.
Ich nehme im Alltag und auf Social Media viele untergewichtige Mädchen und Frauen wahr und habe mich in der Illusion verloren, dass Untergewicht okay ist und ich nicht noch mehr zunehmen muss. Ich bemerke, dass mir aufgrund des Untergewichts die Energie fehlt und ich der Essstörung einige Erkrankungen zu „verdanken“ habe. Die Aussage der Ärztin hat mir klar gemacht, dass mein Körper Energie in Form von Nahrung für ein gesundes Leben benötigt.
Mir dämmerte: Es mag sein, dass sich einige untergewichtige Personen im Moment (z.B. auf einem Foto) gut fühlen, aber es heißt nicht, dass sie tatsächlich gesund und glücklich sind. Und: Was hat ohne Gesundheit einen Wert?
Verschiedene Phasen einer Essstörung
Es gab immer verschiedene Phasen in der Essstörung. Je nachdem wie es mir ging, konnte ich die Gewichtszunahme besser oder schlechter akzeptieren. Ich erinnere mich zurück, dass ich große Ängste hatte, an Gewicht zuzunehmen. Ich fürchtete, keinen Anspruch auf eine Therapie zu haben, wenn ich mich dem Normalgewicht nähere. Diese Angst war unbegründet, denn ein normales Gewicht bedeutet noch lange nicht, die Essstörung überwunden zu haben. Außerdem braucht es keine ES, um eine (Psycho-)Therapie in Anspruch nehmen zu dürfen.
Zu einem Zeitpunkt, in dem mir das Zunehmen wieder besonders schwerfiel, hat mir die Gruppentherapie sehr geholfen. Der Impuls, „Einfach Neues ausprobieren. Du kannst, wenn es dein Leben nicht positiv verändert, wieder zu dem alten Muster zurück“ hat mir unter anderem geholfen, von meinem zwanghaften Essverhalten wegzukommen, um neue gesunde Wege zu gehen.
Die Veränderung war anfangs befremdend und ungewohnt, teilweise auch herausfordernd und emotional sehr anstrengend, jedoch hat die Veränderung von schädlichem Muster in gesunde Verhaltensweise nachhaltig gutgetan und ich habe sie beibehalten.
Eine Essstörung raubt Lebensfreude
Die Essstörung raubt neben Zeit und Energie enorm viel Lebensfreude. Im Moment scheint die ES eine Möglichkeit zur Problembewältigung zu sein (Umgang mit Emotionen), längerfristig schränkt die ES jedoch das Leben stark ein.
Allen Personen, die an einer Essstörung erkrankt sind, lege ich nahe, sich so früh wie möglich professionelle Hilfe zu holen. Ich weiß, dass es große Überwindung kostet, sich seinen Problemen zu stellen und der Ursache der ES auf den Grund zu gehen.
Rückblickend waren die Therapien und die Menschen, welche ich am Weg aus der ES kennenlernen durfte, eine große Bereicherung in meinem Leben, die ich nicht missen möchte. Natürlich wäre es besser, wenn ich all diese wertvollen Erfahrungen auch ohne Anorexie gesammelt hätte. Trotzdem bin ich der Meinung, dass alles seinen Grund hat und früher oder später Sinn ergibt. Heute erkenne ich die schwere Zeit als wichtigen Baustein und als Heilung meiner Beziehung zu mir selbst.