Wissenschaftlich schreiben in Zeitfenstern
Statt einer persönlichen Deadline empfiehlt Jasmin fixe und flexible Zeitfenster, die du für die verschiedenen Aufgaben einer wissenschaftlichen Arbeit nützt. Der Start unserer Serie des "HOW-TO wissenschaftlich schreiben".
Egal, ob Proseminar-, Seminar-, Bachelor- oder Master-Arbeit – eine wissenschaftliche Arbeit zu schreiben kann im ersten Moment ziemlich furchterregend sein. Das kann viele Gründe haben. Erstmal kann es sein, dass das Seminar selbst bereits ziemlich verwirrend und/oder neu war und du schon während des Semesters kaum verstanden hast, worum es eigentlich geht. Nicht jedes Thema, nicht jeder Unterrichtsstil liegt einem … auch solche Seminare gibt es.
Es kann aber auch sein, dass alles wunderbar war, du dich gerne an Diskussionen beteiligt hast, Texte zur Vorbereitung gelesen, Hausübungen gemacht hast inkl. ein Referat gehalten – aber eigentlich gar nicht weißt, wo du beim Schreiben anfangen sollst, es womöglich auch deine erste wissenschaftliche Arbeit ist. Das Semester ist vorbei und seitens der Lehrveranstaltungsleitung wird einem am Ende der letzten Stunde sozusagen noch die Deadline für die Seminararbeit nachgerufen bzw. ins Blackboard gestellt, mehr aber auch nicht.
Manchmal liegt’s auch einfach am Leben selbst – die Zeit fehlt, Interesse wäre da, aber der Beruf/die Familie/die Gesundheit kommt dazwischen.
Die gute Nachricht: Was immer dich bis jetzt zurückgehalten hat, schreibend loszulegen, erstens bist du nicht allein, denn es geht sehr vielen Studierenden so. Und zweitens kannst du die folgenden Ideen wie die Sprossen einer Leiter nutzen, um zu deinem eigenen Ziel zu gelangen: der Abgabe deiner wissenschaftlichen Arbeit.
Eine einfache Formel für den aufbau wissenschaftlicher arbeiten
Beschreibe, was du zeigen wirst.
Zeige es.
Beschreibe, was zu gezeigt hast.
Diese einfache Formel, eingebettet in das klassische „Einleitung – Hauptteil – Schluss“-Schema, ist seit jeher bekannt und so einfach, dass sie manchmal ganz übersehen wird. Doch auch eine wissenschaftliche Arbeit, die sich mit hochkomplexen Fragen auseinandersetzt, Experimente auswertet oder aber philosophischen Gedanken nachhängt, lässt sich letztlich auf diese drei Schritte herunterbrechen. Alles andere – bis hin zu Schlüsselwörtern, Abstract, Literaturverzeichnis & Co – kann man ganz klar als Dekoration oder auch als die notwendige Uniform der wissenschaftlichen Arbeit betrachten. Nur so kann man diese Textgattung nämlich klar von anderen unterscheiden.
Das Stimmengewirr: die wissenschaftlichen Texte
Ein zusätzlicher Punkt, der in wissenschaftlichen Arbeiten nicht fehlen darf, ist der, dass man auch bei der kleinsten Proseminararbeit Bezug auf den wissenschaftlichen Diskurs nimmt, also auf bereits zum Thema verfasste wissenschaftliche. Diese wissenschaftlichen Arbeiten sind ein bisschen wie ein Stimmengewirr, in welchem du dich selbst erst einmal zurechtfinden und dann auch Gehör verschaffen musst.
Denn jede Wissenschafterin und jeder Wissenschafter „spricht“ durch ihre bzw. seine Texte zu uns und teilt uns ihre bzw. seine Erkenntnisse zum jeweiligen Thema mit. Gar nicht so selten widersprechen sie sich auch und unsere Aufgabe ist es letztlich, unsere eigene Stimme zu diesen unterschiedlichen Aussagen zu finden und in Form der Seminararbeit zu äußern:
„Wissenschaft und wissenschaftliches Denken beginnen dort, wo ich bereit bin, meinem eigenen Denken zu trauen, es zu explizieren, auf die Meinungen anderer zu beziehen und seine Resultate in den wissenschaftlichen Diskurs einzubringen.“
(Otto Kruse)
Dort wollen wir also hinkommen. Und zwar möglichst elegant.
Reality check: In der Praxis sitzen wir aber nach der Literaturrecherche [1] oft mitten im analogen (oder auch digitalen) Papierchaos und das meist in den eigenen vier Wänden (auch schon vor Corona). Um nun in diesem Chaos nicht unterzugehen, sondern gezielt voranzukommen, braucht es einen Plan und den haben wir hier für dich:
Fixe und flexible Zeitfenster
Damit wir uns gedanklich auf etwas einlassen können, brauchen wir oft bis zu 20 Minuten. Werden wir dann nach 30 Minuten gestört und müssen unsere Arbeit deshalb unterbrechen, so brauchen wir erneut ca. 20 Minuten, um wieder konzentriert weiterschreiben zu können. Werden wir ohnehin alle fünf Minuten unterbrochen, bringen wir an diesem Tag vermutlich kaum etwas zustande, sind am Abend aber trotzdem ausgelaugt.
Um uns selbst also optimal zu unterstützen, ist es hilfreich, mit fixen Blöcken an Zeit zu arbeiten.
Ich nenne diese Blöcke fixe Zeitfenster und sie sollten etwa 2-3 Stunden umfassen, je nach Arbeitsaufgabe. In diesen ca. 3 Stunden wirst du keineswegs 180 Minuten lang dieselbe hochkonzentrierte Schreibleistung abgeben können – das erwarte bitte erst gar nicht von dir. [2]
Was in diesem fixen Zeitblock aber wichtig und möglich ist, ist, dass du zeitlich und räumlich Platz für dich und deine Aufgabe schaffst:
- Handy auf Flugmodus, E-Mail-Benachrichtigungen aus, andere Ablenkungen ebenso; womöglich sogar die Haustürklingel vorübergehend abschalten.
- Gestalte deinen Arbeitsplatz, selbst wenn es nur ein provisorischer ist, so, wie du ihn brauchst (Unterlagen, Laptop, Textmarker…); auch ausreichend Wasser & Co, damit du dich nicht zwischendurch selbst ablenken kannst, um Wasser zu holen.
- Und dann beginnst du deine Arbeit: Lies deine Fachtexte, kommentiere auf Post-it-Zetteln oder in Literaturverwaltungsprogrammen, schreib Positionen heraus (ggf. in Tabellen), hinterfrage schriftlich diese Positionen, schlag ggf. Fachbegriffe nach, erstelle Cluster und Mindmaps, mach ein Freewriting, … etc. etc.
Du merkst schon: Die drei Stunden in einem Zeitblock können vergehen wie im Flug – und das tun sie meist auch, zumindest, wenn klassische Unterbrecher ausgeschaltet werden, denn wissenschaftliches Schreiben umfasst ziemlich viele einzelne Schritte. In den ersten Minuten kann auch unser eigener Geist uns unterbrechen – ob eine To-Do-Liste oder andere alltägliche Sorgen, sie tauchen plötzlich mit großer Dringlichkeit auf. Meiner Erfahrung nach ist es am besten, sie gleich auf einem Zettel zu notieren; so sind sie für den Geist erledigt und schon bald ist man im intensiven Flow und ins Thema der Seminararbeit vertieft.
Fix ist der Zeitblock übrigens deshalb, weil du ihn dir fix im Kalender einplanst und auch einhältst wie jeden anderen Termin. Entsprechend beendest du auch spätestens nach den drei Stunden deine Arbeit (Timer stellen!) und machst eine wohlverdiente, lange Pause, selbst, wenn du noch im Flow bist, um deine Kapazitäten zu schonen für den nächsten Tag, die spätere Nachmittagseinheit, deinen Nebenjob, andere Projekte,...
Flexible Zeitfenster
Flexible Zeitfenster haben eine ähnliche Grundidee wie die fixen Zeitfenster, sie schwimmen aber etwas freier in deiner Kalenderplanung umher und können somit auch zwischendurch und spontan durchgeführt werden. Sie beginnen bereits bei kleinen Einheiten von etwa 20 Minuten und können bis zu 50 Minuten andauern.
Sagen wir, es ist 16:30 und um 19:00 Uhr kommen Freunde auf Besuch zum Abendessen. Dafür musst du spätestens um 17:45 zu kochen beginnen. Du hast also unerwartet 1 Stunde und 15 Minuten keinen fixen Zeitplan und ohnehin noch vom fixen Zeitfenster am Vormittag (oder Vortag) ein paar Fragen offen, für die keine Zeit mehr blieb. Also stellst du dir deinen Timer am Handy auf 30 Minuten und hältst deine Gedanken zum Thema tagebuchartig in deinem Lesejournal [3] fest, ohne dich mit Rechtschreibung, wissenschaftlicher Formulierung etc. aufzuhalten. Nach spätestens 15 Minuten beendest du diese Übung, nimmst einen Textmarker und gehst deine eigenen Gedanken nochmal durch, um herauszustreichen, was deine Hauptfragen sind, die dich in deinem persönlichen Text beschäftigen. Nachdem du alles markiert hast, schreibst du dir jede dieser Hauptfragen einzeln auf ein Post-it-Zetterl und klebst diese gleich mal in Arbeitsplatznähe sichtbar an. Wenn der Timer klingelt, ist die Zeit vorbei und du hast noch ein bisschen Zeit, bis der Abend beginnt.
Ebenso denkbar wäre in kurzen Zeitfenstern:
- das Literaturverzeichnis erstellen,
- die Formatierung sortieren oder überhaupt mal das Style-Sheet von der Uni-Homepage herunterladen,
- ein Mindmap machen,
- ein Freewriting schreiben,
- drei Fachbegriffe nachschlagen und notieren,
- andere schnell durchführbare administrative Aufgaben erledigen (Uni-E-Mails für die SE-Arbeit, Blackboard-Aufgaben der LV überprüfen, Uploads/Downloads abgleichen, usw.).
Fixe und flexible Zeitfenster hingegen ermöglichen es mir, mich auf den Schreibprozess selbst zu konzentrieren – und dann kann ich auch ohne Stress immer wieder mal auf die Abgabefrist schauen, einfach um abzuschätzen, wie ich vorankomme und wann ich die Arbeit am besten in ihre letzte Form bringe.
Ein persönlicher und kreativer Prozess
Am wichtigsten bei allen vorgeschlagenen Tipps: Probier sie spielerisch aus und schau, welche für dich am besten funktionieren. Denn Schreiben ist ein zutiefst persönlicher und kreativer Prozess, der dir viel Konzentration abverlangt. Gib dir also die Zeit und die Chance, beim Schreiben einer Seminararbeit einerseits das Thema, andererseits aber auch dich selbst immer besser kennenzulernen.
Seit den Zehnerjahren sprießen Schreibtrainingsbücher nur so aus den Verlagen, fast wie Pilze nach dem Regen. Zu meiner Zeit – Nullerjahre – gab’s nur Umberto Eco’s Karteikästchenlehre und im besten Fall noch Otto Kruse. Dadurch hab ich’s (unfreiwillig) umgekehrt gemacht – erst Studium abgeschlossen, dann die Schreibdidaktik für mich entdeckt. Hat auch was!
Hilfreiche Literatur
meist auch online verfügbar in den Uni-Bibliotheken:
- Wolfsberger, Judith (JAHR): Frei geschrieben! Paderborn: Ferdinand Schöningh (=UTB-Bandnr. _____ ).
- Esselborn-Krumbiegel, Helga (2002): Von der Idee zum Text. Eine Anleitung zum wissenschaftlichen Schreiben. Paderborn: Ferdinand Schöningh (=UTB-Bandnr. 2334).
- Fügert, Nadja; Richter, Ulrike (2016): Wissenschaftlich arbeiten und schreiben. Wissenschaftliche Standards und Arbeitstechniken. Wissenschaftlich formulieren. Textsorten. Stuttgart: Klett.
- Fügert, Nadja; Richter, Ulrike (2017): Wissenschaftlich arbeiten und schreiben. Intensivtrainer. Stuttgart: Klett.
[1] Je nach Schreib- bzw. Lesetyp kann die intensivere Lesezeit zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen sein oder aber gerade beginnen. Dazu mehr im Blogbeitrag WISSENSCHAFTLICH LESEN.
[2] Die genaue Gestaltung solcher Blöcke und wie man das eigene Lernpensum (bzw. im obigen Fall Lesepensum) herausfindet und dann sanft steigert, ohne sich selbst zu überfordern, erklär ich im Blogbeitrag LERNEN FÜR DIE UNI.
[3] Dazu mehr im Blogbeitrag WISSENSCHAFTLICH LESEN.