Mit einem offenen Herzen für die Menschen da sein
Leopold verbringt seit Anfang Dezember ein freiwilliges Jahr in Lima / Peru mit der Gemeinschaft Offenes Herz. Seine Aufgabe während dieser Monate ist es, für die Leute im Armenviertel Limas da zu sein, mit ihnen das Leben zu teilen und ein Hoffnungsschimmer in ausweglosen Situationen zu sein. In einem sehr emotionalen Patenbrief beschreibt Leopold seine Erlebnisse der ersten 3 Monate.
Viele Neuerungen
Ich habe in meiner kurzen Zeit in Peru meinen Horizont bereits beachtlich erweitern können und viele neue Erfahrungen gesammelt. Zum Beispiel habe ich mit einer 82-jährigen Salsa getanzt, habe schwarzen Mais gesehen, bin zum ersten Mal in meinem Leben im Pazifik geschwommen, bin von Coca-Cola auf Inca Kola umgestiegen und habe erstaunt wahrgenommen, dass der Weihnachtsmann auch im Sommer einen dicken roten Pelzmantel trägt.
Aber vielleicht fange ich am besten von vorne an. Am 2. Dezember bin ich sehr müde und etwas kränklich am Flughafen in Lima angekommen und sehr (in Anbetracht meiner Verfassung vielleicht sogar zu) enthusiastisch von meiner zukünftigen Gemeinschaft empfangen worden. Das waren Gisela, 28, aus Argentinien und schon seit ungefähr einem Jahr in Peru (sie ist die mit der Erfahrung), José-Francisco, 25, aus dem Süden Brasiliens aus einer Familie mit deutschen Wurzeln, (er leidet darunter, dass er, wegen seines europäischen Aussehens und seiner Unfähigkeit Samba zu tanzen, von vielen nicht als echter Brasilianer angesehen wird), Marie-Liesse (18) und Amaëlle (19), beide aus Frankreich und beide haben viel Energie und Enthusiasmus. Vor ein paar Tagen ist auch noch Macarena aus Argentinien angekommen (sie ist auch 28). Mit ihnen verbringe ich also das Leben in unserem kleinen Haus von Offenes Herz in Barrios Altos, einem sehr alten, aber heruntergekommenen Viertel im Zentrum Limas. Daneben gibt es auch noch ein zweites Haus von Offenes Herz am Rande von Lima in La Ensenada und ein Haus von Klosterschwestern, die ebenfalls zu Offenes Herz gehören, am anderen Ende der Stadt in Guayabo.
Ein neuer Alltag
Für alle, die noch immer nicht genau wissen, was ich hier eigentlich mach, möchte ich noch einmal versuchen, den Kern unseres Lebens zu beschreiben. Im Wesentlichen ist es unsere Mission, eine positive Präsenz im Viertel zu sein, den Menschen hier Trost zu spenden und zu versuchen, durch unsere Anwesenheit ihr Leben zu erleichtern. Vielleicht ist es aber einfacher zu verstehen, wenn ich euch ein bisschen unseren Alltag hier schildere. Wir stehen um ein Uhr nachmittags auf – allerdings nur nach österreichischer Zeit, hier bei uns ist es ca. 7 Uhr früh - und gehen dann in eine der vielen Kirchen in der Nachbarschaft in die Messe. In unserem Haus haben wir zwar eine Kapelle mit Allerheiligsten, aber in der Regel keinen Priester, der Messe feiert. Nach der Messe beten wir die Laudes und anschließend gibt es Frühstück.
Den Rest des Vormittags verbringen wir damit, das Haus zu putzen oder zu kochen. Eine Stunde widmen wir uns der eucharistischen Anbetung. Gegen 13 Uhr gibt es Mittagessen – manchmal mit Gästen – und, wenn noch Zeit übrig bleibt, eine kleine Siesta.
Um 15 Uhr beten wir den Rosenkranz in unserem Vorhof und öffnen die Haustür, um so die Kinder der Nachbarschaft einzuladen, mit uns zu beten. Einige von ihnen beten dann auch wirklich ein ganzes Gesätzchen mit. Nach dem Rosenkranz bleiben einer oder zwei bei den Kindern um mit ihnen zu spielen, etwas zu basteln oder Ähnliches zu unternehmen (ab diesem Zeitpunkt sind es dann meistens mehr), der Rest geht unsere Freunde in der Nachbarschaft besuchen. Das sind Einzelpersonen, sowie Familien in allen verschiedenen Lebenslagen. Viele von ihnen erlebten eine oder mehrere Erschütterungen in ihrem Leben und viele von ihnen leben in einer Armut, die ich bis daher nur vom Hören kannte.
Gegen 18 Uhr kommen wir zurück, beten Vesper und essen zu Abend. Nach dem Abendessen gibt es jeden Tag ein anderes Programm. Zum Beispiel empfangen wir Sonntag- und Montagabend junge Leute aus unserem Alter und spielen mit ihnen Karten oder ähnliches. (Frühere deutsche Freiwillige haben anscheinend das in Peru sonst unbekannte Werwolf-Spiel eingeführt). An anderen Abenden unternehmen wir etwas in der Gemeinschaft oder haben Nachtanbetung.
Besondere Aktivitäten an besonderen Tagen
Das ist so ungefähr der Tagesablauf, dazu kommen noch Aktivitäten, die wir nur an bestimmten Tagen unternehmen. Jeden Freitag besuchen wir beispielsweise den Hogar de la Paz (übersetzt etwa: Haus des Friedens), eine Einrichtung der Mutter Teresa Schwestern, wo sie sich um Kinder und Jugendliche mit starken Behinderungen kümmern. Wir kommen dann gegen die Mittagszeit, um uns ein bisschen mit diesen zu beschäftigen und helfen, indem wir ihnen zu Essen geben, oder mit ihnen Zähne putzen, oder die Wäsche aufhängen. Die Arbeit mit diesen Jugendlichen ist für mich immer noch eine der schwierigsten Aufgaben der Mission. Einerseits besitzen sie nicht viel mehr geistiges und körperliches Vermögen als ein Kleinkind und trotzdem verdienen sie den selben Respekt wie jeder andere auch.
Am Mittwoch ist unser Ruhetag, den wir normalerweise außerhalb unseres Viertels verbringen. Meistens im Haus der Schwestern in Guayabo.
Jeden Samstagvormittag gehen wir in sogenannte Quintas, das sind abgeschlossene Bereiche mit Wohnhäusern, wo in der Regel kein Verkehr herrscht, sozusagen ein kleines Viertel innerhalb des eigentlichen Viertels. Dorthin nehmen wir einen Ball und eine Tasche voller Puzzles, Bausteine und anderer Spielsachen mit und spielen für ca. zwei Stunden mit den Kindern dort.
Kinder sieht man hier auf den Straßen von Barrios Altos relativ viele, auf jeden Fall mehr als in Wien. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Bevölkerungspyramide in Peru auch noch wirklich eine Pyramide ist, und nicht ein komischer Kreisel wie in Österreich. In unserem Viertel leben die Kinder meistens auf sehr engem Raum, sodass sie fast den ganzen Tag auf der Straße verbringen oder eben von 3 bis 6 Uhr zu uns kommen, um zu spielen, um Huckepack getragen zu werden, oder um uns nur ein bisschen auf die Nerven zu gehen. Aber jeden, der mich kennt, wird es nicht wundern, dass ich einige von ihnen schon fest in mein Herz geschlossen habe und am Ende meiner Mission sicher vermissen werde.
Unerwartete, aber willkommene Gäste
Die Kinder sind aber nicht die einzigen, die uns regelmäßig besuchen kommen. Fast jeden Tag kommen entweder erwartete Gäste, die wir beispielsweise zum Geburtstag eingeladen haben, oder unerwarteter Besuch. Das sind meistens Freunde von Offenes Herz, die entweder nur vorbeischauen möchten, oder Gesellschaft oder Hilfe brauchen. Ein sehr häufiger Gast ist zum Beispiel Roxana, die fast jeden Tag an die Tür klopft. Sie ist schon Mitte dreißig, hat aber in vielerlei Hinsicht den Geist eines Kindes. Das erste, was sie macht, wenn sie durch die Türe hereinmarschiert kommt, ist sich an den Tisch zu setzen und mit einem lauten „Tee!“, nach ebendiesem zu verlangen. Trotzdem ist sie ein gern gesehener und willkommener Gast. Die letzte Zeit war für sie sehr schwierig, da, kurz bevor ich ankam, ihre Mutter gestorben war. Daher passiert es immer noch regelmäßig, dass sie laut zu weinen anfängt. Allerdings kann sie mit einer bewundernswerten Überzeugung sagen, dass ihre Mutter glücklich ist und jetzt bei Gott schläft.
Ein anderer in letzter Zeit häufiger Gast ist unsere Freundin, die offensichtlich unter Schizophrenie leidet und uns jedes Mal einen neuen Namen nennt. (Bisher kannten wir sie schon als Pilar, Petronila, Perla und Montserrat). Trotzdem ist es schön, dass sie kommen kann und auch wenn es manchmal schwierig ist, ist es auch schön, für sie da zu sein und ihr einen Ort zu bieten, wo sie willkommen ist, zumal sie wahrscheinlich auf der Straße lebt und, soweit wir wissen, ihre Familie sich nicht mehr um sie kümmern möchte. Und auch wenn solche unerwarteten Besuche manchmal anstrengend sind, vor allem wenn man gerade das Mittagessen kochen oder mit der Anbetung beginnen wollte, so kann man doch viel von der Schlichtheit und Einfachheit dieser unserer Freunde lernen.
Neue alte Freunde
Wie ihr lesen könnt, habe ich in diesen zwei Monaten viele neue Leute kennengelernt, wahrscheinlich sogar mehr als in meinen fünf Jahren in Wien. Viele von ihnen leben in sehr schwierigen Situationen. Manche von ihnen haben früh Kinder verloren, andere hat ihr Ehemann plötzlich alleine zurückgelassen, wieder andere haben Familienangehörige im Gefängnis (und für manche trifft alles drei zu). Um sie in ihrem schwierigen Leben zu unterstützen, versuchen wir also Freundschaften mit ihnen aufzubauen, wobei diese Freundschaften ja eigentlich meistens schon bestehen. Das schöne an Offenes Herz ist, dass man nicht in einem neuen Umfeld alles neu aufbauen muss, sondern, dass schon Beziehungen zwischen den Einheimischen und Offenes Herz bestehen.
Das Haus in Barrios Altos feierte letztes Jahr im Juni sein 25-jähriges Jubiläum und ist daher ca. so alt wie ich. Vielleicht habe ich auch deshalb manchmal das Gefühl, mein Leben lang schon hier gelebt zu haben. Bei den Besuchen wurde ich oft wie ein alter Bekannter empfangen und auf der Straße rufen uns mir unbekannte Leute oft ein „Puntos Corazón“ („Offenes Herz") oder ein „Hermanito!“ („kleiner Bruder“, wie wir hier oft liebevoll genannt werden) zu, da sie uns sofort zuordnen können, wenn wir mit unserem Rosenkranz am Arm und unserem Aussehen (trotz der ganzen Sonne habe ich immer noch nicht den Farbton der Einheimischen erlangt) durch die Straßen gehen. Zum Beispiel hat ein Jugendlicher, den wir nicht kannten, sofort gewusst wer wir waren und uns um ein Foto gebeten, als wir zu Weihnachten verkleidet durch die Nachbarschaft zogen.
Señor Carlos
Ich habe also in meiner Zeit hier in Peru viele neue alte Freunde kennengelernt und zu schätzen gelernt. Besonders gemerkt habe ich das bei Señor Carlos, der Anfang Jänner sehr überraschend verstorben ist. Señor Carlos war um die fünfzig Jahre alt und lebte mit seiner Mutter Isabel, die 82 Jahre alt ist. Vor seinem Tod war ich ihn einmal besuchen und den Montagmorgen nach Weihnachten hat er gemeinsam mit uns verbracht. Zuerst haben wir uns in der Messe getroffen und dann ist er zum Frühstück zu uns gekommen. Auf dem Weg zu unserem Haus hat er noch kurz eine seiner Nichten besucht, die gegenüber von uns wohnt und die er zu diesem Zeitpunkt schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Das Frühstück mit ihm war sehr gemütlich. Er hat viel von den früheren Freiwilligen und von seinen Erfahrungen mit Offenes Herz erzählt. Nachher haben wir dann auf seiner Bitte hin noch alle zusammen Fotos gemacht. Circa eine Woche danach am Dienstag klopfte seine Nichte gegen 10:00 Uhr bei uns an, um uns mitzuteilen, dass er gestorben sei und um uns zu bitten, sie zu seiner Totenwache zu begleiten. Am Tag darauf wurde sein Körper verbrannt.
Ich war sehr erstaunt, wie sehr mich sein Tod getroffen hatte. Es war nicht so, als wäre ein Bekannter gestorben, den ich nur zwei Mal gesehen hatte, sondern vielmehr als wäre ein Freund gestorben, denn ich schon lange kannte. Ich bitte euch daher besonders für seine Seele und für seine Mutter Isabel zu beten.
Heiße Weihnachten
Bevor ich endlich meinen Brief beende, möchte ich euch noch kurz erzählen, wie wir Weihnachten hier im fernen Land und im Sommer verbracht haben. Es ist zu dieser Zeit also auf jeden Fall um einiges heißer als bei uns. Darum ist es umso verwunderlich, dass es hier den Brauch gibt, für die Kinder sogenannte Chocolatadas zu veranstalten, wo man eben heiße Schokolade trinkt und Panetone isst. Für die Kinder gibt es dann auch noch meistens kleine Geschenke. Am 23. Dezember haben wir unsere eigene Chocolatada abgehalten. Zusätzlich haben wir mit den Kindern noch ein etwas spontanes Krippenspiel aufgeführt. Es war kein theatralisches Meisterwerk, aber ich glaube, die Kinder und ihre Eltern waren soweit zufrieden.
Am 24. waren wir recht früh in der Messe und haben dann unser Weihnachtsessen vorbereitet. Eigentlich hatten wir vorgehabt, Weihnachten mit Freunden zu feiern, die sonst niemanden zum feiern haben, allerdings haben uns dann alle Eingeladenen noch kurzfristig abgesagt (was eigentlich schön ist, da sie also doch noch Familie zum Feiern gefunden hatten). Dafür konnten wir Alfredo, einen älteren Herrn, der im Rollstuhl sitzt, unter Depressionen leidet und mit seiner Familie zerstritten ist, dazu überreden, mit uns in die Messe zu gehen und dann mit uns zu feiern. Auch luden wir noch relativ spontan die Nachbarskinder Fatima, Luciano, Matías und Gerard dazu ein, da sie zu Hause anscheinend Weihnachten nicht wirklich feiern. Fatima und Luciano sind Geschwister und leben mit ihrer Tante Sonia, der Mutter von Matías und Gerard, da ihre eigene Mutter sie vor einiger Zeit einfach zurückgelassen hat.
Auch wenn es aus finanziellen Gründen nur Huhn und nicht den traditionellen Truthahn gab, war es trotzdem ein sehr gemütliches Weihnachtsessen. Um Mitternacht gab es, wie bei uns zu Neujahr, ein großes Feuerwerk in unserem Viertel und nachher sind wir als Josef, Maria und Hirten verkleidet (ich bin bei dieser Entscheidung von meiner Gemeinschaft leider überstimmt worden) durch die Straßen gezogen und haben unseren Freunden frohe Weihnachten gewünscht. Am 25. Dezember sind wir dann nach der Messe um 11 Uhr, mit Essen beladen, zu unseren Freunden gegangen, die unter einer Brücke im Zentrum Limas Wohnen und circa unser Alter haben. Mit ihnen haben wir dann auch noch ein gemütliches Weihnachtsessen gehabt.
Fortsetzung folgt…
Ich könnte euch noch vielmehr erzählen. Zum Beispiel, wie wir Neujahr mit einem Clown gefeiert haben. Oder von unserem Besuch bei Señor Germán, einem 82-jährigen, der mit seiner fast 100-jährigen Mutter Eleonora lebt, die uns sehr vergnügt auf ihrem Tablet Fotos von ihren Enkeln, Urenkeln und Ururenkeln gezeigt hat. Oder wie ich zum Karneval in ein Schwimmbecken geworfen wurde; aber ich möchte euch ja nicht länger langweilen, daher hebe ich mir das lieber fürs nächste Mal auf.