Meine Berufung: Gipfelstürmer sein
Tamara Lunger, 32, aus Südtirol ist Extrem-Bergsteigerin. Im Gespräch mit moment hat sie Höhepunkte und Grenzerfahrungen geteilt – und erzählt, wie ihr am Berg Gott begegnet.
Tamara, wie bist du zum Bergsteigen gekommen?
Es war mir nicht in die Wiege gelegt. Ich bin mit meinen Eltern nicht wirklich Bergsteigen gegangen. Aber mir hat das Ambiente immer gefallen. Mit 14 hatte ich den Traum „8000 Meter“. Das ist wegen der Schule usw. dann ein bisschen in Vergessenheit geraten. 2005 habe ich Simone Moro kennengelernt und der hat mich 2009 zum ersten Mal mit nach Nepal genommen. Dort habe ich mich in die hohen Berge verliebt und konnte gar nicht anders, als immer wieder dorthin zu fahren.
Was macht für dich den Reiz am Bergsteigen aus?
Man erlebt das Leben ganz anders. Es ist ein Lebensweg, auf dem ich die Außenwelt ganz ausschalte. Wenn ich auf Expedition bin, schaue ich, dass ich bei mir bin. Ich grabe dann in meinem Inneren und interessiere mich nicht für Fernsehen, Zeitung, Internet. Es kommt mir einfach so vor, als würde ich mich durch die Medien immer mehr von mir selbst entfernen, aber eigentlich sind wir Menschen ja sehr kompliziert. Mir ist es ein großes Anliegen, herauszufinden: Wer bin ich und wo will ich hin?
Was findet man denn auf den Bergen über sich heraus?
Ich glaube, man ist mal absolut gezwungen, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Man kommt ganz stark mit der Natur und dadurch auch mit sich selbst in Berührung.
Manchmal setze ich mich einfach eine Stunde auf einen Stein und beobachte nur die Natur: den Wind, den Geruch … Das ist so etwas Schönes! Du steigst mit deinem Rucksack auf, der wiegt vielleicht 20 Kilo – und du kannst damit überleben. Du brauchst nicht mehr. Es ist so faszinierend, wenn dir bewusst wird: Ich bin jetzt hier, mit mir im Reinen, kann diese Schönheit genießen und brauche zum Glücklichsein nicht irgendetwas Materielles: eine Dusche, eine Toilette, ein Haus. Ich bin dort zuhause, wo ich mich zuhause fühle – und das ist auf den Bergen.
Was ist für dich dabei der schönste Moment?
Ich kann immer noch weinen, wenn ich auf den Gipfeln stehe – manchmal weil ich so große Freude habe, manchmal weil ich in einer schwierigen Zeit und dankbar bin, dass ich trotzdem da oben stehe. Das gibt mir die Gewissheit, dass ich meine Berufung gefunden habe und genau das machen muss, um mich selbst kennenzulernen und einen besseren Menschen aus mir zu machen. Das ist Ausdruck meines Lebens.
Wie sieht der Alltag einer Bergsteigerin aus? Bist du immer auf dem Berg?
Das wäre der Idealfall, aber natürlich geht das nicht immer. Man hat auch viele andere Verpflichtungen, die sehr viel Zeit kosten: Sponsoren, Vorträge vorbereiten, zwischendurch E-Mails beantworten usw. Aber ich versuche schon, jeden Tag zu trainieren: je nach Jahreszeit mit Skitourengehen, Eisklettern, Laufen, Radfahren, Kraftübungen ... Ich muss mich sehr fit halten, damit mein Körper das Bergsteigen aushält.
Wo warst du schon überall?
Ich habe sechs Achttausender versucht: den Lhotse habe ich geschafft, K2 habe ich geschafft ohne Sauerstoff, ohne Träger. Dann habe ich den Cho Oyu versucht, wegen eines Todesfalls bin ich aber nicht mehr aufgestiegen. Am Broad Peak war viel zu viel Schnee. Im Winter am Nanga Parbat musste ich 70 Meter unter dem Gipfel umdrehen. Das war sicher meine intensivste Geschichte. Den Manaslu habe ich auch im Winter versucht, da hat es ebenfalls zu viel geschneit. Dazu habe ich noch 7000- und 6000 Meter-Berge bestiegen.
Wie kam es, dass du am Nanga Parbat so kurz vor dem Ziel umkehren musstest?
Die Expedition war sehr lange – drei Monate. Das Wetter war nie schön genug, um eine gute Akklimatisierung zu machen. Eigentlich muss man immer wieder auf- und absteigen, denn der Körper braucht Zeit, um sich an die Höhe zu gewöhnen. Aber wir sind vor unserem Gipfelsturm nur einmal bis auf 6200 Meter aufgestiegen und haben dort eine Nacht verbracht. Das ist eigentlich viel zu wenig.
Dann kam das schöne Wetter und wir mussten die Chance nutzen. Wir sind aufgestiegen und haben es versucht. Bis zu Lager 4 war alles recht gut. Das war auf 7250 Metern – von dort haben also noch knappe 1000 Meter zum Gipfel gefehlt.
Ab Lager 4 habe ich gemerkt: Der Tag war nicht mein Tag. Ich komme eigentlich aus dem Skitourenrennen – war da in der italienischen Nationalmannschaft. Und ich habe es wirklich gesehen wie ein Rennen: Ich musste das Beste aus mir herausholen. 70 Meter unter dem Gipfel habe ich plötzlich eine Stimme gehört (oder da hat mir jemand zugeflüstert): „Wenn du jetzt noch da raufgehst, dann wirst du nie mehr nach Hause kommen.“ Das hat mich ziemlich zum Nachdenken gebracht.
Ich wusste einfach: Jetzt musst du gehen, sonst ist alles zu spät. Beim Abstieg bin ich abgestürzt – durch die Kälte und den Wind war ja alles durchgefroren – und habe schon auf das Ende gewartet. Ich hatte nicht wirklich Angst vor dem Tod, eher davor, in Stücke gerissen zu werden und dass das sehr schmerzt. Aber wie durch ein Wunder bin ich in einen weichen Schneehaufen gefallen und da irgendwie hängengeblieben. Es war schon sehr spät, ich war verletzt und musste mich alleine zu unserem Lager 4 zurückkämpfen. Das habe ich gerade noch geschafft. Die Nacht war extrem, weil ich nicht wusste, ob ich am nächsten Tag heil herunterkommen würde. So war alles sehr spannend.
Aber: Was zuerst eher eine Tragödie war, hat sich in den letzten Jahren zu einer großen Freude entwickelt. Die Erfahrung dieser Extremsituation hat mir viel mehr geschenkt als „nur“ einen Gipfel.
Was hast du durch die Extremsituation erfahren?
Ich bin darauf gekommen, dass für mich eigentlich der Weg das Ziel ist. Das i-Tüpfelchen ist natürlich der Gipfel und ich weiß in mir drin, dass ich durch meine große Liebe zum Bergsteigen alles erreichen kann, was ich will. Aber manchmal sendet uns der Körper gewisse Botschaften – in Momenten, in denen nicht der richtige Zeitpunkt ist, etwas nicht für uns vorgesehen ist oder in denen wir etwas noch Größeres erleben dürfen als „einfach nur“ den Gipfel.
Wenn ich mir vorstelle, ich hätte den Gipfel bestiegen, dann wäre das ein toller Moment gewesen. Aber das gerät relativ schnell in Vergessenheit. Das, was ich erlebt habe, diese Erfahrung so nah am Tod, wird mir immer in Erinnerung bleiben – auch die schwierige Zeit und Ungewissheit in der Nacht, ob ich das überlebe. Das ist für mich so intensiv und so schön.
Ich liebe ein Leben, das intensiv ist und nicht flach. Und ich habe gelernt, auch meine negativen Phasen positiv zu sehen, weil ich weiß: Sie sind nur ein „Vor“ oder „Nach“ einer wunderschönen, glücklichen Phase.
Du hast von dieser Stimme am Berg gesprochen. Wie erklärst du dir das?
Ich bin sehr gläubig. Meiner Meinung nach ist man dort oben, in diesen großen Höhen, sehr viel näher bei Gott. Ich hatte schon den ganzen Aufstieg mit Gott gesprochen. Es ist auch eine ganz andere Spiritualität. Man fühlt die Energie, die dieser Berg ausstrahlt. Dazu kenne ich meinen Körper durch meine bisherigen Aktivitäten sehr gut. Diese drei Faktoren zusammen haben mir diesen Satz irgendwie ins Gehirn eingeflößt.
Sich so lange vorbereiten und dann merken: Ich schaffe es nicht … Es braucht wohl viel Demut, dann zurückzugehen und nicht zu sagen: „Ich versuche es mit aller Gewalt.“ Was hat dir geholfen, diese Entscheidung zu treffen?
Es war nicht leicht, denn es wäre ein historischer Moment gewesen. Niemals zuvor ist eine Frau bei der Erstbesteigung eines Achttausenders im Winter dabei gewesen. Und es war so knapp davor. Diese 70 Höhenmeter – man stellt sich vor, das ist ja gar nichts. Aber ich hätte in meiner Kondition, in dieser Höhe und ohne Akklimatisierung noch eine Stunde gebraucht. Ich habe verstanden: Das rutscht mir jetzt durch die Finger. Ich kann nicht die erste Frau sein und ich kann mein Ziel jetzt nicht verwirklichen. Vielleicht schafft es auch nie mehr eine andere Frau.
Aber ich habe so stark gespürt: Das ist jetzt ernst. Ich glaube, das war eine Nachricht meiner Seele: ein Moment, in dem meine Seele über meinen Egotrip „ich will die erste Frau sein“ gewonnen hat. In diesem Augenblick war meine Seele zum Glück stärker und hat mir das richtige Signal gesendet.
Aber ich habe so stark gespürt: Das ist jetzt ernst. Ich glaube, das war eine Nachricht meiner Seele: ein Moment, in dem meine Seele über meinen Egotrip „ich will die erste Frau sein“ gewonnen hat. In diesem Augenblick war meine Seele zum Glück stärker und hat mir das richtige Signal gesendet.
Nach dem, was du erzählst, stelle ich mir das Bergsteigen ziemlich einsam vor.
Es ist schon sehr Einzelsport. Seit 2015 gehe ich immer mit Simone Moro, mit ihm verstehe ich mich blind. Wenn man im Team bis Lager 4 aufsteigt, ist alles recht harmonisch. Man versteht sich gut, scherzt auch herum.
Ab Lager 4 sieht man, wie sich die Welt in Einzelwelten aufteilt: Jeder versinkt in seinen eigenen Gedanken und schaut auf sich – denn er will ja trockene Innenschuhe haben, genügend Essen und Trinken für den Tag danach. Das muss alles passen. Dann steigt man – mehr oder weniger gemeinsam, weil jeder so ein bisschen sein Tempo geht – zum Gipfel auf. Ich habe mich nie zuvor in meinem Leben so einsam gefühlt.
Ich weiß dann: Jetzt muss jeder Schritt passen. Ein falscher Schritt könnte ein gebrochener Fuß oder Knöchel sein und dann habe ich ein Problem, denn alleine komme ich nicht runter und ich erwarte auch von niemandem, dass er mir hilft.
Wirklich?
Ja. Ab Lager 4 habe ich es fast wie einen Überlebenskampf erlebt. Jeder muss mit seiner Energie ganz genau haushalten. Das sind Umstände, die man sich gar nicht vorstellen kann: Es ist sehr kalt und windig, wenn man die Nacht draußen verbringen muss, erfriert man sowieso. Hier jetzt noch einen verletzten Menschen zu bergen, vielleicht in der Finsternis draußen schlafen zu müssen …
Ich erwarte von niemandem, dass er mir in dieser Situation hilft.
Hast du keine Angst vor dem Tod?
Ich hatte schon so meine Erfahrungen mit dem Tod. Wenn ich darüber rede, sagen die meisten, ich sei lebensgefährlich unterwegs und würde den Tod herausfordern. Aber eigentlich ist genau das Gegenteil der Fall.
Ich habe 2010 mitgeholfen, einen Bekannten von mir herunterzutragen. Der war abgestürzt, tödlich. Dieses Gefühl, zum ersten Mal einen toten Menschen anzufassen, die Totenstarre und ihn dann herunterzubringen … Das war ein sehr starkes Erlebnis. Ich habe ein halbes Jahr gebraucht, bis ich mich davon erholt hatte. Aber das hat mir sehr viel geschenkt, denn ich hatte am Anfang natürlich Fragen: Zahlt sich das Bergsteigen aus, ist es nicht viel zu gefährlich? Ich habe mit dem Tod irgendwie Frieden geschlossen. Ich werde sicher nicht kopflos auf den Berg gehen – und ich habe jetzt die Gewissheit, dass ich diese innere Stimme habe, die mich meiner Meinung nach vor dem Tod bewahrt. Wenn der Tag gekommen ist, muss ich eh gehen.
Heißt das, du gehst davon aus, dass es schon gutgehen wird? Oder kalkulierst du das Risiko, vielleicht auch auf dem Berg zu bleiben, ein?
Es ist mir immer bewusst, dass ich vielleicht nicht mehr nach Hause komme. Das ist Teil meiner Leidenschaft. Aber meine Liebe zu den Bergen ist so groß, dass ich das auf mich nehme. Und das ist etwas Schönes: für die eigenen Träume alles zu geben … Ich will nicht nur hier sitzen und von den Bergen träumen, sondern ich will sie erleben.
Ich bin – wie meine Eltern übrigens auch – der Meinung, dass der Tag, an dem wir sterben, schon bei unserer Geburt irgendwo festgeschrieben ist. Deshalb kann ich genauso gut zu Hause sein wie auf der Straße, im Zug, im Flugzeug oder eben auch auf dem Berg. Ich versuche, jeden Tag so intensiv oder so gut wie möglich zu leben, damit ich dann, wenn der gewisse Tag kommt, sagen kann: „Ich habe alles richtig gemacht.“
Auch beim Absturz am Nanga Parbat habe ich mit dem Herrgott gesprochen und zu ihm gesagt: „Ja, eigentlich hätte ich nicht gedacht, dass ich jetzt schon zu dir gehen muss. Aber es war immer klar, dass das passieren kann, und deshalb bin ich auch bereit dafür.“ In diesem Moment war ich eigentlich so glücklich über das, was ich in meinem Leben schon gemacht habe. Es ist so viel, was ich in meinem Herzen trage und was mir niemand mehr nehmen kann. Das macht mich unendlich reich.
Was hast du auf den Bergen über Gott erfahren?
Ich habe gesehen, dass er immer auf mich herunterschaut. Ich habe schon mehrfach erlebt, dass ich zu ihm gebetet habe und er mir genau das geschenkt hat, was ich mir gewünscht habe. Ich bitte ihn immer auch um Kleinigkeiten – wie einen Menschen, weißt du.
Also, ich sage nicht nur: „Mach, dass diese Expedition gutgeht“, sondern auch: „Bitte schenk mir heute Sonnenschein“ oder so. Nur am Nanga Parbat habe ich 10 Stunden durchgebetet, er solle den Wind abstellen. Das hat er aber nicht gemacht. Ich habe lange darüber nachgedacht, bis ich verstanden habe, dass ich hier jetzt etwas anderes erleben muss. Dass für mich das andere in diesem Moment vielleicht unangenehm ist und schmerzhaft, aber dass genau das kommen muss, damit ich etwas lerne, was ich sonst nie gelernt hätte.
Was hilft dir, unter solchen Bedingungen bis zum Gipfel durchzuhalten?
Ich muss da gar nicht durchhalten. Jeder Schritt ist Freude. Natürlich ist für mich das Höchste der Gefühle, wenn ich da oben stehe und erlebe, wie ich mich einfach zuhause fühle. Das ist einfach unbeschreiblich.
Gibt es Erfahrungen beim Bergsteigen, die sich für dich auf das normale Leben übertragen lassen?
Eigentlich ist das mein Leben. Dieses In-sich-Kehren, das Über-sich-selbst-etwas-herausfinden-Wollen, das Ein-besserer-Mensch-werden-Wollen … Das ist superschön. Und ich glaube, dass erreicht man, wenn man seiner Berufung folgt.
Wie hast du diese Berufung entdeckt?
Für mich war immer klar, dass ich das irgendwann machen würde. Mit „klar“ meine ich: Ich habe nie daran gezweifelt, sondern immer gewusst: Irgendwann ist der Zeitpunkt da, an dem das kommt. Und ich habe mich schon sehr darauf gefreut.
Ich glaube, viele Menschen sind unzufrieden mit ihrem Leben und würden gerne etwas anderes tun. Das höre ich auch immer bei meinen Vorträgen. Die Leute müssen aufhören, an sich zu zweifeln und sagen: „Wow! Das gefällt mir, daran habe ich Spaß und Freude …“ Ich habe davon geträumt, mich schon dahin gesehnt und schon gefühlt, wie das sein würde. Es war irgendwie schon meins, weil ich daran gedacht habe. Deshalb war eigentlich gar nichts anderes möglich. Und jetzt ist es so.
Dazu kann man dich nur beglückwünschen. Hast du schon ein neues Projekt im Blick?
Ich habe viele Träume, aber jetzt muss ich erst mal schauen, dass ich wieder fit werde. Ich habe schon seit mehreren Jahren Probleme mit meinem Knie – jetzt hatte ich endlich den Mut, mich untersuchen zu lassen. Das ist mein nächster Gipfel, den ich in Angriff nehmen darf, und dann geht’s weiter!
Danke an die Zeitschrift moment für die Bereitstellung dieses Interviews. Möchtest du die Zeitschrift abonnieren? Schreib an moment@sonnenau.de und like die Zeitschrift auf Facebook.
Mehr über Tamara gibt es unter www.tamaralunger.com und in ihrem Buch
Meine Glückseligkeit an der Grenze zum Tod
Traum und Albtraum auf den höchsten Bergen der Welt
2017 Athesia Tappeiner Verlag; Athesia Buch GmbH
ISBN 978-88-7073-893-3