In Krankheit und Tod beistehen: Mein Praktikum in der Krankenhausseelsorge
Menschen beim Sterben sehen, einfach zuhören und füreinander beten. Einblicke in Lauras Tagebuch aus ihrer Praktikumszeit bei der Krankenhausseelsorge.
Aus meinem Tagebuch, 12. November 2019
Morgen beginnt mein Praktikum im Krankenhaus. Ich bin schon sehr aufgeregt. Hoffentlich finde ich hin und komme rechtzeitig an. Wie wird die Umgebung sein, die Leute und die Räumlichkeiten? Ist es hell? Ist es dunkel?
Vielleicht wird die Zeit im Krankenhaus eine Zeit der Krankenhaus-Exerzitien. Eine Zeit der Gott-Suche und Begegnung mit Gott. Eine Zeit, in der ich Gott in der Begegnung mit den Menschen im Krankenhaus finde. Eine Zeit des Hin- und Zuhörens. Des Da-Seins und der vollkommenen Hingabe. Ein Dienst am Nächsten. Ein Gottes-Dienst.
(Auszug aus meinem Tagebuch zu Beginn des Praktikums)
Und nun, einen Monat später, sitze ich hier im Zug Richtung Heimat. Mein Praktikum in der Krankenhausseelsorge ist wie im Fluge vergangen. Reich an neuen Erfahrungen, Lebensfreude und purer Dankbarkeit möchte ich dir nun darüber anhand einiger Auszüge meiner Tagebucheinträge erzählen.
Woche 1. So ist es also, wenn Menschen im Sterben liegen
Ich war bei einer Krankensalbung dabei. Eigentlich dachte ich mir immer, dass Menschen dann eine Krankensalbung bekommen, wenn sie im Sterben liegen. Tatsächlich kann man diese aber immer erhalten, denn es ist ein Sakrament der Stärkung. In diesem Fall lag der Mann aber im Sterben. Wir gingen zu ihm auf die Intensivstation. Zum Schluss haben die Angehörigen und wir den Mann noch gesegnet. Jeder gab ihm ein Kreuzzeichen mit Weihwasser auf die Stirn. Auch wenn der Mann nicht mehr ansprechbar war, glaube ich, dass er die Berührung gespürt hat – als ich ihm die Hand aufgelegt habe, wurde er ganz ruhig. Es war ein sehr berührender Anblick und eine schöne Erfahrung.
Der erste Tag startete schon mal sehr gut. Mir ist aufgefallen, dass es viele unterschiedliche Gerüche im Krankenhaus gibt. Ich bin gespannt, was morgen auf mich zukommen wird.
Ich sitze gerade im Seelsorgebüro und muss mit den Tränen kämpfen. Vorhin war ich bei einer Patientin, die Krebs hat. Sie lehnt die Chemo ab, da sie zu stark ist und ihr Körper das nicht aushält. Sie hat sich damit abgefunden, dass sie in den nächsten Wochen sterben wird. Ihre strahlenden Augen haben mich sehr beeindruckt. Aber sie hatte so dünne Arme ... Sie wirkte so zerbrechlich. Ich habe noch nie zuvor einen Menschen in diesem Zustand gesehen. Es wurde mir mal wieder bewusst, wie dankbar ich sein darf, gesund zu sein. So oft mache ich mir Gedanken über unnötige Kleinigkeiten. Eigentlich gibt es so viele Gründe, um glücklich zu sein. Das vergesse ich oft. Als ich das Zimmer verlassen habe, musste ich kurz raus an die frische Luft, um meinen Tränen freien Lauf zu lassen.
Mir ist aufgefallen, dass im Krankenhaus kein Wert auf Äußerlichkeiten gelegt wird. Hier fallen alle Masken ab. Das ist auch für mich eine Art Heilungsprozess. In unserer heutigen Gesellschaft scheint es ein wichtiger Faktor zu sein, wie man nach außen hin wirkt, wie man aussieht, wie man gekleidet ist. Das spielt hier keine Rolle. Hier spielt sich die ungeschminkte Wahrheit ab. Und das tut richtig gut!
Woche 2. fehler passieren.
Das war heute ein totaler Reinfall – ich glaube, dass ich nicht sehr hilfreich war. Im Hinterkopf hatte ich immer die morgige Prüfung. Hoffentlich schaffe ich es dieses Mal – immerhin ist es schon der zweite Antritt ...
Ich glaube, die Leute haben gemerkt, dass ich mit den Gedanken woanders war. Mir sind nämlich ein paar Fehler passiert, was mir echt peinlich ist und worüber ich mich ärgere. Einen Mann habe ich gefragt, ob es ihm gut gehe. Die logische Antwort war: „Nein, sonst wäre ich nicht hier.“ Das hätte ich mir echt sparen können. Trotz des Ausrutschers haben wir uns noch etwas unterhalten – er hat COPD, wie ich herausgefunden habe. Das ist eine atemwegsverengende Lungenerkrankung. Damit einhergehend wurde bei ihm eine Durchblutungsstörung der Beine festgestellt. Er hat kein Gefühl mehr in einem Bein. Wenn die Schmerztherapie nicht anschlägt, muss ihm dieses amputiert werden.
Woche 3. Zuhören tut den Menschen gut.
Ich komme gerade von einem sehr berührenden Gespräch zurück. Eigentlich wollte ich der Frau die Kommunion spenden. Da sie aber am Darm operiert wurde, darf sie nichts schlucken. Aus diesem Grund formulierte ich „nur“ ein Segensgebet für sie. Das war der Schlüssel. Die Frau brach in Tränen aus und erzählte mir von ihrer Mutter, die vor zwei Monaten im gleichen Krankenhaus verstorben war. Ich habe gemerkt, dass sie dieses Thema sehr belastet und wir redeten noch lange über das Sterben und den Tod. Zu Beginn wusste ich nicht, wie tief ich gehen darf, ich probierte es einfach aus und traute mich auch, auf die Gefühlsebene zu gehen und nicht nur auf der Sachebene zu bleiben. Der Frau tat es sichtlich gut, dass ihr jemand einfach nur mal zuhört. Als wir dann noch auf ihre OP zu sprechen kamen und sie etwas bekümmert sagte, dass sie jetzt einen Katheter braucht, lag mir schon „Das wird schon wieder“ auf der Zunge. Ich konnte es gerade noch hinunterschlucken. Denn diese Aussage hilft ihr in dieser Lage wenig. Beim Verabschieden bedankte sie sich mit Tränen in den Augen fürs Zeitnehmen. Ich drückte ihre Hand ganz fest.
Heute Nachmittag durfte ich mich mit einer Krebspatientin unterhalten. Sie hat gestern erfahren, dass der Tumor im Darm bösartig und unheilbar ist. Eigentlich kam sie mit der Überzeugung ins Krankenhaus, dass der Tumor chirurgisch entfernt wird und sie bald wieder gesund wird. Die OP wurde gar nicht erst durchgeführt. Eine Krankenschwester sagte mir, dass es der Frau sicher gut täte, wenn jemand von der Seelsorge zu ihr schaut.
Sehr schnell kamen wir auf ihre Krankheit zu sprechen und auch darüber, dass sie es nicht versteht. Immerhin hätte sie sich immer gesund ernährt, Sport gemacht usw. Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Alles was ich gesagt hätte, wäre überflüssig gewesen glaube ich. In so einem Moment sind Worte fehl am Platz. Alles, was ich tat, war, ihr ein Taschentuch zu reichen, damit sie sich die Tränen abwischen konnte. Auch, wenn sie immer wieder mal in Tränen ausbrach, konnte sie dennoch lächeln. Ihre positive Art hat mich wirklich überrascht. Ich versprach ihr, am nächsten Tag wieder zu kommen. Das Gespräch mit ihr dauerte eine Stunde. Danach war ich total k.o. Aktives Zuhören ist wirklich anstrengend.
Heute war ein ereignisreicher Tag. Ich war bei einem Sterbesegen auf der Intensivstation dabei. Dieser wird durchgeführt, wenn kein Priester im Krankenhaus ist, um die Krankensalbung zu spenden. Auch wenn der Mann nicht mehr ansprechbar war und schon eine Schnappatmung hatte, öffnete er einmal kurz die Augen, als seine Frau ihn berührte. Sterbende reagieren auf Berührungen und Geräusche. Der Hörsinn ist jener Sinn, der am längsten hält. 66 Jahre alt war er – eigentlich hätte er seine Pension genießen sollen. Ich frage mich, warum manche Menschen so ein Schicksal trifft.
Beim Kommunion-Austeilen kam ich zu einer Frau, die nach einem starken Herzinfarkt sechs Wochen lang auf der Intensivstation lag. Es war eigentlich aussichtslos, dass sie je wieder gesund wird. Nun liegt sie seit zwei Wochen auf der normalen Station und mit jedem Tag geht es ihr besser. Sie musste alles wieder neu lernen. Wie man das Besteck hält, wie man isst und geht, auch der Klogang usw. Ich bin überwältigt, welch einen Lebenssinn sie entwickelt hat und welch große Fortschritte sie schon erzielte. „Meine Familie braucht mich noch“, sagte sie mir. Die Dankbarkeit dafür, dass ich gesund bin, wächst. Das alles ist nicht selbstverständlich. Auch, dass ich so eine tolle Familie habe, ist ein Geschenk. Bei vielen Gesprächen kam heraus, dass die Familie das ist, was den Kranken Halt gibt und was sie trägt.
Heute war die Nikolaus-Aktion im Krankenhaus. Ich durfte den Nikolaus als Engerl begleiten. Wir gingen von Station zu Station. Die Augen der Menschen funkelten. Alte Leute wurden wieder zu Kindern. Ich war erfüllt von den unterschiedlichsten Emotionen. Oft hatte ich Freudentränen in den Augen. Aber es war auch ein trauriger Moment dabei. Nachdem wir auf der Wochenstation waren und ich zwei Neugeborene sah, kamen wir zur Intensivstation und gingen an jenem Zimmer vorbei, wo gestern der Mann im Sterben lag. Leben und Tod sind hier so nah beieinander.
Woche 4. Momente der Dankbarkeit.
Ich durfte heute bei einer Kindersegnung dabei sein. Viele verwechseln das mit einer Taufe. Es ist lediglich ein Segen und kann, wenn die Eltern das möchten, ein paar Tage nach der Geburt gespendet werden. Das Baby lag so behütet in den Armen seiner Mutter. Der Vater hatte ganz nasse Augen. Das Kind war erst fünf Tage alt. Ein kleines Wunder.
Heute habe ich den Mann getroffen, der an COPD erkrankt ist. Er kam mir zufällig am Gang im Rollstuhl entgegen und war sehr überrascht, dass ich mich noch an ihn erinnere. Zu diesem Zeitpunkt fiel es mir noch nicht auf, dass er im Rollstuhl saß. Als ich ihn fragte, wie es ihm geht, zeigte er auf seine Beine – er hatte nur mehr ein Bein. Das andere musste amputiert werden. Die Schmerztherapie hat also nicht angeschlagen. Seinen Humor hat er aber behalten, wovor ich großen Respekt habe. Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, welche Veränderungen nun auf den Mann zukommen.
Beim Kommunionspenden kam ich heute zu einer Frau, die nur eingedickt essen darf. Aus diesem Grund brach ich ein Stück der Hostie ab und legte es auf einen Löffel mit Wasser. Diesen führte ich ihr in den Mund ein. Während dieses Vorgangs sah ich ihr in die Augen. Ich konnte die Dankbarkeit von ihren Augen ablesen. Dieser Moment wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.
Mein Fazit: von der unsicheren Praktikantin zur Seelsorgerin
Reich an vielen neuen Erfahrungen blicke ich zurück auf meine Zeit im Krankenhaus. Schnell hat sich meine Funktion von der unsicheren Praktikantin zur Seelsorgerin verändert. Ich habe Neugeborene, alte, sterbende und fast schon wieder gesunde Menschen gesehen.
Wenn du mich fragen würdest, ob sich im letzten Monat etwas verändert hat, dann muss ich dir sagen: Ja. Sehr vieles hat sich verändert. Mein Blick auf die Dinge zum Beispiel. Ich nehme nichts mehr als selbstverständlich hin – manche Menschen freuen sich, dass sie alleine wieder das Besteck halten können! Dinge, die für mich alltäglich sind und deren Ausführung mir manchmal als lästig erscheinen, sind für andere ein großes Geschenk.
Ich bin auch dankbarer geworden. Meine Freude am Leben und an meinen Mitmenschen ist so groß und ich versuche, so gut es mir gelingt, jeden Tag ganz bewusst zu leben. Durch die vielen Gespräche und Begegnungen wurde ich feinfühliger. Ich habe gelernt, dass es nicht immer Worte braucht. Oft reicht eine Berührung, ein Blick oder einfach nur ein Raum, in dem das Schweigen einen Platz haben darf.
Menschen verpacken einen Hinweis auf ihr wahres Befinden oft in einem banalen Satz. Diesen Hinweis zu hören und ihn aufzugreifen ist nicht immer leicht, trägt aber wesentlich dazu bei, das Gespräch zu vertiefen. Man gibt der Person dadurch das Gefühl, dass man präsent ist und ihr zuhört.
Es ist wirklich schade, dass meine Zeit im Krankenhaus nun schon wieder vorbei ist. Aber wenn ich eines hier gelernt habe, dann, dass Abschiednehmen dazugehört und sich irgendwo und irgendwann ein Neubeginn auftut. Ich weiß nicht, wann ich wieder im Krankenhaus als Seelsorgerin stehen werde – aber ich weiß, dass ich es irgendwann tun werde.
Ich hoffe, dir einen kleinen Einblick in mein Praktikum verschafft haben zu können und möchte diesen Beitrag mit einem Zitat von David Steindl-Rast beenden: