„Ich hab nie gedacht, dass ich in einer Sekte lande“
Johanna* erzählt ihre Geschichte der letzten zwei Monate, in denen sich unverbindliche Kontakte und eine Bibelgruppe mitten in Wien als sektenartige Gruppe entpuppt haben. Jetzt will sie andere warnen.
*Name der Redaktion bekannt
Für zwei Monate hat Johanna* einen „internationalen, ökumenischen, privaten“ Bibelkurs in Wien besucht. Dann wird per Video das „Geheimnis“ gelüftet: Die Lehrer dieser Gruppe gehören einer südkoreanischen religiösen Gruppe an, die auf der ganzen Welt aktiv ist. „Sie zeigen mir ein Video und bei mir läuten alle Alarmglocken: Genau so stelle ich mir eine Sekte vor, ich muss hier raus“, denkt Johanna sofort. Doch in den nächsten 24 Stunden wird sie abgelenkt und manipuliert – erst danach schafft sie es, sich zuhause an den Laptop zu setzen. Bis spät in die Nacht sammelt sie Informationen über die Gruppe und schaut Videos von Aussteigern. Ihr ist klar: Die Gruppe ist gefährlich, sie muss die anderen Studenten warnen.
Bible Study in Wien
Begonnen hat es im Sommer auf einer christlichen Großveranstaltung in Wien. Um zwischendurch Zeit für sich zu haben, setzt sich Johanna in der Mittagspause ins Gras und liest die Bibel. Da kommt eine Südkoreanerin auf sie zu. Ob sie ein paar Minuten Zeit für ein Interview habe, fragt sie. Es gehe um einen „Kulturvergleich zwischen Österreich und Südkorea“. Die Koreanerin stellt sich als evangelische Theologin vor, die schon an der Uni in Paris unterrichtet hat. Als an der Bibel Interessierte lädt sie Johanna zu einem weiteren Interview ins Café und danach zu ihr ins „Office“ ein, wo sie ihr mehr über die Bibel erzählen könne. „Seit über einem Jahr war ich dabei, die Bibel chronologisch von vorne bis hinten zu lesen. Öfters habe ich überlegt, eine „Bible Study“ zu besuchen, in Wien hatte ich nichts für mich Passendes gefunden“, meint Johanna. Als ihr die Südkoreanerin anbietet, ab September bei ihr einen Bibelkurs zu besuchen, ist es für Johanna der richtige Zeitpunkt. Obwohl sie dafür zwei Abende pro Woche plus jeden Samstagvormittag investieren muss.
Im September starten Johanna und vier andere Studenten – die in christlichen Freikirchen oder Pfingstgemeinden beheimatet sind – einen Bibelkurs im ‚Office“, einer Privatwohnung bei der Währinger Straße in Wien. Neben Johanna sitzt eine junge Katholikin, die selbst erst ein paar Wochen davor mit der Bible Study begonnen hat. Sie meint, sie möchte Teile des Kurses wiederholen und beginnt eine Freundschaft mit Johanna. Später stellt sich heraus, dass jeder Student einem Lernpartner zugeteilt ist, der selbst Lehrer ist bzw. in Johannas Fall diese Studentin. Sie hören Vorträge über einzelne Bibelstellen, anfangs überwiegend Gleichnisse, und dürfen während des Unterrichts keine Fragen stellen. Danach tauscht sich jeder mit seinem Lernpartner aus, eine gemeinsame Diskussion gibt es nicht. Fragen können nur im Einzelsetting den Lehrern gestellt werden. Immer wieder gibt es Dynamiken, die Johanna komisch vorkommen, doch zu diesem Zeitpunkt erklärt sie sich die Methoden durch die südkoreanische Kultur. Später versteht sie diese als Kontrollmaßnahmen, die keine Kritik und eigene Meinungsbildung zulassen.
Immer mehr Kontakt
„Die Lehrer sind alle besonders nette und herzliche Leute“, erzählt Johanna, sie kümmern sich um Essen und eine schöne Atmosphäre. Mit der Zeit suchen sie mehr und mehr Kontakt zu den Studenten. Neben den Treffen am Dienstag und Donnerstag verabreden sie sich auch an den anderen Wochentagen in Cafés, verbringen nach der Samstagvormittags-Einheit den Samstagnachmittag gemeinsam mit Ausflügen, schreiben immer öfter WhatsApp-Nachrichten. Johannas Ziel ist – zu ihrem Glück – nicht, einen neuen Freundeskreis aufzubauen, sie hat meist anderes vor und ist die Erste, die sich nach den Treffen verabschiedet. Andere Studenten, die neu nach Wien gekommen sind, decken hier ihre sozialen Bedürfnisse ab. „Die Lehrer verkörpern die idealen Freunde“, reflektiert Johanna, „sie sind immer erreichbar, immer da, immer freundlich.“ Heute zweifelt sie daran, ob sie neben ihrer Tätigkeit für die Bible Study tatsächlich Brotberufe ausüben, wie sie vorgaben.
Kein Austausch zwischen den Teilnehmern
Nach den Treffen fahren die Studenten nicht alleine nach Hause, sondern werden begleitet. „Wir sind zwar zusammen als Gruppe heimgefahren, aber doch jeweils mit dem Lernpartner. Er hat gefragt, wie es für mich war, ob ich Fragen habe – dadurch konnte er andere Gespräche verhindern“, meint Johanna. Spät hat sie festgestellt, dass sie mit den anderen Studenten keine Kontaktdaten ausgetauscht hat. Für mehr Austausch als Smalltalk blieb keine Gelegenheit, man sollte nur mit den Lehrern und den zugeteilten Lernpartnern Kontakt haben.
Wochenlang wusste Johanna nicht, zu welcher Gruppe die netten Lehrer der Bible Study gehören. © iStock/MEINPLAN.at
„Es ist mir nie verboten worden, über die Inhalte zu erzählen“, meint Johanna. „Aber wenn jemand Fragen haben sollte, würde er die Inhalte nicht verstehen, weil man sie erst von vorne lernen müsse. Dann soll ich anbieten, die Lehrer selbst zu treffen, um das zu klären.“ Genau so hat Johanna das ihrer WG-Kollegin weitergegeben, als sie mal nachgefragt hat, fällt Johanna im Rückblick auf. Bei tiefergehenden oder kritischen Fragen im Unterricht sind die Studenten auf später vertröstet worden – „das machen wir nächsten Monat durch.“
Das offenbarende Video
Nach eineinhalb Monaten werden Johanna und die anderen Studenten mehr und mehr darauf vorbereitet, etwas gesagt zu bekommen. Johanna wird an einem Freitagabend als einzige der Studenten eingeladen, auch zum Übernachten. Sie sagt zu, erwartet einen netten Mädelsabend. An jenem Abend zeigt ihre Lehrerin zusammen mit Johannas Lernpartnerin das offenbarende Video. Sie erfährt von der koreanischen Neureligion Shinchonji, die von Man-Hee Lee 1984 gegründet wurde. Er ist „der neue versprochene Pastor der Endzeit“, gilt körperlich als unsterblich. Johanna sieht Gottesdienste, wo alle einheitlich Weiß und dazu schwarze Hosen tragen. Eine südkoreanische Großveranstaltung mit dem Titel „International Peace Festival“, 100.000 Menschen.
Johanna ist alarmiert. Doch im nächsten Moment startet ein Video mit schönen Fotos und stimmungsvoller Musik. Titel: „Herzlich willkommen, Johanna!“ Fotos vom Bibelkurs, den gemeinsamen Mittagessen und Aktivitäten der letzten Wochen. Dann kommen alle Lehrer und Studenten des letzten Bibelkurses mit Blumen, Kuchen und Kerzen ins Zimmer, feiern, dass Johanna jetzt das Geheimnis weiß. „Alle waren ständig neben mir, haben mir Fragen gestellt. Ich habe das Gefühl, es ging darum, dass ich nicht zum Nachdenken komme. Und das Schlimme: Es hat funktioniert.“
Wie kann jemand freiwillig in so eine Gruppe gehen?
Es dauert Stunden, bis Johanna wieder zuhause ist und realisiert, was passiert ist. „In der Schule hört man über Sekten und denkt, wie kann jemand freiwillig in so eine Gruppe gehen? Selbst würde mir das nie passieren. Erschreckend, sich selbst in so einer Situation zu erleben“, sagt Johanna. Sie wendet sich an die Beratungsstellen für Sektenfragen und vereinbart ihr weiteres Vorgehen. Am nächsten Dienstagabend schreibt sie allen Lehrern pünktlich zum Kursbeginn eine Nachricht, sie sei katholisch und möchte nicht in eine Sekte eintreten. Enttäuscht, wie sie zwei Monate lang belogen wurde. Sie habe Freunde und Familie informiert und wird nicht wiederkommen. Sie bräuchten sich auch nicht bemühen, bei ihr aufzutauchen und sie zurückzuholen.
Johanna bekommt eine höfliche Antwort, die Missverständnisse tun ihnen leid, sie akzeptieren, wie Johanna ihren Glauben lebt und bitten um ein Treffen, bei dem Johanna ihre Kopien zurückgibt, die im Kurs ausgehändigt wurden.
Andere vor der Gruppe warnen
„Zu Beginn hatte ich Angst, dass sie wiederkommen“, erzählt Johanna. Doch dann versteht sie, mit jeglichem unangebrachten Kontakt hätte sie etwas gegen die Gruppe in der Hand. Ihren Auftrag sieht sie nun darin, andere zu warnen und die Information zu verbreiten, denn in Wien ist die Gruppe noch klein und unbekannt.
„Die Gruppe ist extrem missionarisch und spricht Personen im Umfeld christlicher Veranstaltungen an“, erklärt Johannes Sinabell, Referent für Sekten und Weltanschauungsfragen der Erzdiözese Wien. „Sie versuchen, möglichst viele Informationen zu bekommen und eine Beziehung aufzubauen. Wer hinter der Gruppe steht, erfahren die Teilnehmer der Bibelgruppen relativ spät.“
Die Methoden der Gruppe Shinchonji sind nicht neu, die Gruppe ist in Wien jedoch neu. Über die Beschäftigung mit der Bibel und die persönliche Beziehung werden Studenten immer mehr in die Gruppe gebracht. „Es wird das Gefühl vermittelt, du musst die Bibelschule ernstnehmen und dir Zeit nehmen, die Treffen sind Fixtermine. Die Gruppe wird zum wesentlichen Teil des Lebens, andere soziale Kontakte muss man reduzieren“, fasst Sinabell zusammen.
Was ist schlecht daran, sich mit der Bibel intensiv zu beschäftigen? „Der christliche Standpunkt ist: Jeder hat die Freiheit, sich zu entfalten und seinen Weg mit Gott zu finden. Für diese Gruppe gibt es nur eine Art, wie die Lehre gelebt werden muss. Personen werden aus ihrem Umfeld entwurzelt, müssen in der Gruppe mitleben und ihnen wird genau gesagt, was Richtig und Falsch ist – wenn du nicht dabei bist, wirst du verdammt. Es gibt keine Möglichkeit, mit dem Glauben zu ringen und ihn zu reflektieren. Es gibt keine Möglichkeit, aus Diskussionen zu lernen und eine eigene Meinung zu bilden“, erklärt Johannes Sinabell.
Der Einstieg in eine Gruppe sei vergleichbar mit dem Verliebtsein – man ist begeistert von der Sache und möchte nur mehr dort Zeit verbringen. Doch Sinabell rät, „immer ein rationales Eck im Hirn freizuhalten, wo ich über das, was ich mache, nachdenke.“ Auch immer einen Kontakt außerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten. Und: „Am gefährlichsten sind Menschen, die behaupten, auf alle Fragen eine richtige Antwort zu haben.“
Mal in etwas hineinzurutschen, heißt auch nie, dort bleiben zu müssen. Sinabell: „Die Entscheidung liegt immer bei mir, wie lange ich bei der Gruppe bin. Sollte mir beim Ausstieg mit Konsequenzen gedroht werden, dass ich in die Hölle komme oder nicht erlöst werde, sollte ich das mit jemandem außerhalb der Gruppe besprechen.“
Zuschauen müssen, wie andere vereinnahmt sind
Hätte Johanna von einer südkoreanischen, sektenartigen Gruppe gewusst, die in Wien ihre Verbreitung sucht, wäre der Kontakt anders verlaufen, meint sie heute.
Besonders schmerzhaft ist für Johanna die Erkenntnis, dass Mitstudenten aus dem Kurs durch das Video nicht alarmiert waren und weiterhin der Gruppe angehören. Über Umwege konnte sie die Telefonnummer eines ehemaligen Kollegen bekommen: „Ich habe über eine halbe Stunde mit ihm telefoniert. Es war, als würde ich gegen eine Wand reden“, erzählt Johanna. „Er hat die Argumente der Gruppe geschluckt.“ Er habe zum Beispiel gar nichts über die Gruppe gegoogelt, weil Aussteiger so viele Lügen verbreiten würden. „Das Schlimme ist das Danebenstehen und Wissen, man muss zuschauen.“
Johanna sieht ihre Erfahrung als Lebensschule. Transparenz, Vertrauen und Wahrheit sind ihr heute wichtiger als zuvor. Sie hinterfragt viel und sieht ihre Beziehung zu Gott auf einer anderen Ebene. Ihre Offenheit, neue Leute kennenzulernen, möchte sie bewahren.
Wie kann ich eine bedenkliche Gruppe erkennen?
Empfehlungen für kritisches Nachfragen vom Referat für Weltanschauungsfragen:
Kontaktaufnahme
- Von wem werde ich angesprochen? Deutsch/Englisch? Von einem Koreaner? Geht es um einen Fragebogen? Ein Interview, in dem der Glaube schnell zum Thema wird?
- Möchte ich meine Kontaktdaten wirklich weitergeben?
- Wie viel Zeit möchte ich für Treffen investieren?
Bibelkurs
- Wo hat der Leiter über die Bibel gelernt, welche Lehrer hatte er, welche Ausbildung? Welche Organisation steht dahinter? Mein Auto lass ich auch nicht von einem Fremden reparieren, der mich auf der Straße angesprochen hat.
- Privatwohnung oder Veranstaltungsraum in einer Pfarre?
- Gibt es ein Türschild?
- Darf ich das Gelehrte hinterfragen? Ist eine gemeinsame Diskussion möglich? Die Bibel verlangt Auseinandersetzung, mit ihr muss man ringen.
- Werde ich als eigeständig denkender Schüler gesehen?
- Darf ich Aussagen der Gruppe infrage stellen?
- Weiß ich, wer an der Spitze der Gruppe steht?
- Wie viel Zeit nimmt die Gruppe in Anspruch?
Achtung bei Gruppen mit diesen Merkmalen
- Die Gruppe verlangt eine enge Bindung und starke Verbindlichkeiten.
- Du hast immer weniger Zeit für dich selbst und brichst andere soziale Kontakte ab.
- Du darfst nur einer einzigen Person oder Ideologie Glauben schenken. Alle anderen liegen falsch.
- Dir wird ein schlechtes Gewissen eingeredet oder Angst gemacht.
- Du bist krank und sollst dich nach der Lehre der Gruppe richten und nicht einen Arzt fragen.
- Du wirst immer wieder aufgefordert, Geld beizutragen (Beachte: Das kann erst spät Thema werden. Wiege dich nicht in Sicherheit, weil du nichts zahlen musst.)
Wenn ich mir Sorgen um einen Freund mache
- Kontakt halten, damit der Freund ein soziales Netzwerk außerhalb der Gruppe hält.
- Gemeinsame Verabredungen und Gewohnheiten (Essen, Spieleabende …) beibehalten.
- Nachfragen und wertschätzend darüber reden: Warum gehst du dorthin? Wie denkst du über das, was du dort lernst?
- Du kannst nicht die Entscheidung für jemand anderen treffen, aber das kritische Denken der Person stärken.
Information & Hilfe
Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen der katholischen Kirchen in ganz Österreich
Die Referenten geben seriöse Auskunft über alle religiösen Gemeinschaften und helfen dir u.a., eine Gruppe einzuschätzen.
Bundesstelle für Sektenfragen, 1010 Wien