Anders leben: Einblicke in mein Volontariat in Indien
"Anders leben" - Ich weiß nicht, wie viel man mit dieser Phrase anfangen kann. Vielleicht denkt man an Neujahr mit neuen Vorsätzen oder an Hippies, die ein Aussteigerdasein führen. Vor knapp sechs Monaten habe ich es, dank Seminaren und Vorbereitung, zwar oft genug gehört, aber trotzdem hatte ich letztendlich keine Ahnung, was es eigentlich bedeuten kann. Hier in Südindien entdecke ich dieses andere Leben jeden Tag.
Mein Name ist Hannah, ich bin 18 und habe letztes Jahr, also 2019, meine Reifeprüfung gemacht. Im Juli bin ich mit den Jesuit Volunteers nach Tamil Nadu, in den Süden Indiens, gegangen. Seitdem hat sich in mir und für mich einiges ge- und verändert. Angefangen von meinem Blick auf die Welt, mit ihrer Schönheit und ihren Problemen, und meiner Persönlichkeit. Aber beginnen wir von Anfang an:
Ein Blick über den eigenen Tellerrand
Schon vor meiner Reifeprüfung habe ich mich mit der Freiheit angefreundet, da ich schnellst möglich aus der Schule und meinem Umfeld rauswollte. Man muss sich vorstellen, ein humanistisches Gymnasium in einem gehobenen Stadtteil – und damit will ich niemandem auf die Füße treten – ist wie eine Blase. Bildung, Vermögen, Individualität und auch Konkurrenz spielen eine große Rolle, wohingegen viele sich das Ausmaß von Ungerechtigkeit und Armut anderswo gar nicht vorstellen können. Fernreisen sind zwar drin, aber trotzdem geht es nicht über die Komfortzone, den Tellerrand, hinaus. Und dieser Tellerrand heißt in meinem Fall: Kultur.
Kulturschock!
Für mich heißt „anders leben" vor allem Kultur und Umfeld wechseln, und das kam dann mit diesem Jahr radikal. Wie gesagt, von Reisen (nicht unbedingt Luxus-Touren) kannte ich Asien schon ein bisschen und dachte, ich wäre gewappnet gegen einen Kulturschock. Aber der kam! Ende Juli/Anfang August erreichte ich meine Einsatzstelle. Eine Higher Secondary School der Jesuiten, mitten im indischen Land, etwa drei Autostunden von Chennai entfernt. Es ist etwas anderes, in einer anderen Kultur zu leben, als sie vom Hotel aus kennen zu lernen. Anfangs war es für mich etwas Lähmendes und Beängstigendes gewesen, aber auch eine große Chance - ein Abtauchen, Fallenlassen, Versinken und auch Rudern.
Mein Volontariat, ein Geschenk
Aufgrund Sprache, Gesten und kulturell unterschiedlicher Herangehensweise an Problemen oder anderen Menschen, fiel es mir anfangs alles andere als leicht, Kontakt auf Augenhöhe zu finden. Und da ich als einzige Freiwillige und Nicht-Tamilin an diesem Ort war, der noch dazu Ausländer überhaupt nicht gewöhnt ist, kann man auch vergessen, dass man für vieles nichts kann, weil man einfach „anders ist". Daher das Rudern. Trotzdem ist mein Auslandsaufenthalt ein wahnsinnig großes Geschenk und das Beste, was mir zu diesem Zeitpunkt hätte passieren können.
Perspektivenwechsel
Konkret heißt „Anders leben" auch, dass man sich auf Dinge einlässt, die nicht den bisherigen Gewohnheiten entsprechen. Ich habe mein europäisches Bett gegen eine Strohmatte auf einem Metallgestell eingetauscht, trage Chudidar mit festgepinntem Schal (damit mein Oberkörper nicht zu erahnen ist), trinke Wasser, ohne den Becher an meinen Mund anzusetzen, dusche aus Eimern und vieles mehr. Diese Dinge sind für mich zur Normalität geworden. Wenn mir – und das passiert tatsächlich des Öfteren - irgendwelche Gedankenbruchstücke oder Erinnerungen durch den Kopf gehen, dann fällt mir auf, dass so manche Privilegien, mit denen ich aufgewachsen bin, nicht selbstverständlich sind: springen in einen Pool, barfuß Fahrradfahren, meine Bildung, mein relativ großes und eigenes Zimmer in einer Altbauwohnung. Ich könnte gar nicht mehr aufhören.
Aber jetzt rutsche ich vielleicht zu tief in die abstrakte Welt meiner Erkenntnisse ab, bevor ich genau erzählt habe, woraus ich diese gewonnen habe.
Mein neuer Alltag
Ich lebe und arbeite auf dem Gelände eben dieser Schule. Zusammen mit etwa 30 Mädchen, neun kleinen Kindern und dem Staff wohne ich im Girls Hostel. Inzwischen sind meine Tage mehr als voll, denn ich unterrichte neben Englisch auch Kunst, unterstütze dabei zwei Lehrer, bin aber dadurch oft den ganzen Schultag beschäftigt. Vor und nach der Schule gibt es Study Times, bei diesen helfe ich als Art Nachhilfelehrerin, und außerdem die Games Time. Wenn die Mädchen Duty haben, gehe ich auch gerne zu den Jungs zum Fußballspielen.
Tür an Tür
Insgesamt heißt das für mich, dass ich nicht allzu viel Zeit für mich selber habe, trotz der Aufstehzeit um 05:30 Uhr. Mein Zimmer ist die nächste Türe zum Schlafsaal der Mädchen. Hier schlafen sie alle zusammen, auf dem Boden, ohne Bettgestell. Anfangs war diese allgegenwärtige Nähe und eingeschränkte Privatsphäre eine Herausforderung für mich. Es gehörte von beiden Seiten viel Geduld und Nachsicht dazu, um zu einander zu finden. Letztendlich bin ich darüber aber sehr glücklich, denn anders wäre ein - teilweise sehr intensiver Kontakt - gar nicht möglich gewesen.
Kulturell und sozial ist mein gewohntes Umfeld - im Gegensatz zu den Kinder und dem Ort Kuppayanallur - deutlich anders. Die Menschen leben hier (verglichen mit der Gegend, in der ich aufgewachsen bin) in sehr armen und einfachen Verhältnissen, nämlich in Stroh- oder Lehmhütten mit sehr kleinem Eingang oder ohne Toiletten (geschweige denn Klopapier). Die meisten der Menschen im Ort leben von der Landwirtschaft oder anderen Berufen, welche andere Leute nicht machen wollen.
Einblicke in das soziale System
Wenn man Grundlegendes über die Gesellschaft in Indien weiß, erklären sich die großen Widersprüchlichkeiten und Unterschiede. Offiziell ist das Kastensystem zwar abgeschafft, aber praktisch leben noch viele Inder danach, vor allem auf dem Land. Meiner Meinung nach haben sie sich nicht freiwillig dazu entschieden. Ich glaube, dass die oberen Kasten dafür sorgen, dass es so weitergegeben wird. Kultur und Traditionen werden von einigen Menschen nicht hinterfragt - auch nicht, wenn sie faktisch von Geburt an diskriminieren. Immer noch gibt es die Kastenlosen, die Dalits, die von Geburt an für die dreckigen, unhygienischen Berufe bestimmt sind und als Arbeitssklaven strukturell unterdrückt und ausgenutzt werden. Je nach Beruf gibt es Unterkasten, eigene Kommunitäten, die sowohl Identifikation, als auch Kontrollinstanz für die individuelle Person sind. Was du studierst, wen und wann du heiratest und was du arbeitest entscheidet mitunter die Familie, dein soziales Umfeld und nicht du selbst.
die Rolle der Frau in indien
Besorgniserregend ist die Situation vieler Frauen, die häufig von ihren Männern abhängig sind. Leider denken viele Leute, dass die Frauen nur für Kochen, Putzen und Kindererziehung zuständig sind. Manchen Frauen wird sogar verboten, arbeiten zu gehen. Auch ist es üblich, dass die Familie der Braut wahnsinnig viel „dowery“ (also Brautgeld) in die Ehe einzahlt, um sozusagen den Unterhalt der Familie zu garantieren. Gerade deshalb kommt es erschreckenderweise in einigen Teilen Tamil Nadus noch immer vor, dass Frauen sich nach der Geburt der vierten Tochter umbringen, in dem Glauben, ein Fluch laste auf ihnen. Ein weiterer Punkt ist die sehr präsente Gewalt gegen Frauen. In den Medien ist von Vergewaltigungsfällen, teils auf brutalste Weise, zu hören. In meinem direkten Umfeld vor allem von häuslicher Gewalt.
Dieser Kontext erklärt, warum es für mich schwierig war, alleine rauszugehen. Aber auch, warum ich von den für mich verantwortlichen Jesuiten-Fathers nicht zwangsläufig die Erlaubnis für Vieles bekam. Allerdings fehlte mir diese persönliche Bewegungsfreiheit schon sehr, trotz der viele Privilegien, die ich - im Vergleich zu anderen - hier genoss.
Ich durfte wachsen
Wenn ich zum Anfang zurückblicke, konnte ich mir eigentlich kaum vorstellen, dass man an einer existenziell so schwierigen Situation so sehr wachsen kann. Inzwischen war ich dieses Jahr schon mit vielen Dingen beschäftigt: den Vorbereitungen für die verschiedensten Functions, Feiertage und Pojekte, beispielsweise zum 25 jährigen Jubiläum meiner Schule, Children's Day oder die ELT-Mela (einem Englisch Language Teaching Fest). Aber ich habe einen Punkt der Zufriedenheit in mir selbst und in der Welt erreicht wie nie zu vor. Die Arbeit mit Kindern macht mir wahnsinnig viel Spaß und ist sehr erfüllend. Außerdem ist diese Zeit ist ein Geschenk und ein Beitrag zur Gerechtigkeit in der Welt, in dem Horizonte erweitert, Vorurteile aufgebrochen und die Schönheit des Lebens entdeckt werden.
Demnach wünsche ich allen den Mut und die Neugierde, eure eigenen Gewohnheiten zu hinterfragen und euch Gedanken zu machen, wo immer ihr gerade im Leben steht. Gerade eine globalisierte Welt braucht das!